Scham überwinden: Intimgesundheit bei Krebs

Dr. med. Marie-Laure Amram
Fachärztin für medizinische Onkologie in Onex
Prof. Dr. med. Frédéric Ris
Facharzt für Kolon-, Rektum-, Anal- und
Beckenbodenchirurgie am Universitätsspital Genf (HUG)

Wenn wir an Krebs denken, denken wir oft an aufwendige Behandlungen und grosse gesundheitliche Herausforderungen. Doch wie steht es um das Intimleben der Patient:innen? Schmerzen, vermindertes Selbstwertgefühl, körperliche Veränderungen oder proktologische Beschwerden können die Sexualität und das Wohlbefinden beeinträchtigen. Am 6. Symposium für Onkologie, Sexologie und Proktologie des Universitätsspitals Genf (HUG) kamen im Juni Expert:innen zusammen, um diese allzu selten angesprochenen Themen zu diskutieren. Ein Treffen mit der Onkologin Dr. med. Marie-Laure Amram und dem Koloproktologen Prof. Dr. med. Frédéric Ris, die erklären, warum sexuelle Gesundheit für die Lebensqualität zentral ist und wie der Mut, darüber zu sprechen, alles verändern kann. | Adeline Beijns

Warum ist es wichtig, die Bereiche Sexologie und Proktologie in die Behandlung von Krebspatient:innen zu integrieren?

Dr. med. Amram: Es ist wichtig, anzuerkennen, dass Krebs und seine Behandlungen (Chirurgie, Chemotherapie, Strahlentherapie, Hormontherapie usw.) einen erheblichen Einfluss auf die sexuelle Gesundheit und somit körperliche sowie psychische Auswirkungen haben können. Die Einbeziehung der Aspekte der sexuellen Gesundheit in die Onkologie ist daher von entscheidender Bedeutung für die Verbesserung des Wohlbefindens der Patient:innen. Indem sie sich nicht scheuen, die verschiedenen Probleme im Zusammenhang mit der sexuellen Gesundheit anzusprechen, können medizinische Fachkräfte den Patient:innen helfen, mit Veränderungen umzugehen, die Intimität in ihrem Leben wiederherzustellen, ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber der Krankheit zu stärken und ihre Therapietreue zu verbessern.

Prof. Dr. Ris: Nach einer Darmkrebsoperation sind anorektale Beschwerden wie Inkontinenz, sexuelle Störungen oder Dammschmerzen häufig. Diese Probleme beeinträchtigen das Selbstvertrauen und das Intimleben, aber sie werden oft ignoriert, weil sie als Tabu gelten. In Zusammenarbeit mit Onkolog:innen und Sexolog:innen können wir Lösungen wie Beckenbodengymnastik anbieten, um diese Auswirkungen zu minimieren. Ein ganzheitlicher Ansatz ist essenziell, um die Patient:innen umfassend zu behandeln, nicht nur im Hinblick auf ihre Erkrankung, sondern auch in Bezug auf ihre Lebensqualität während der Genesung.

Können Sie als Onkologin ein konkretes Beispiel schildern, wie eine integrierte Versorgung (Onkologie und Sexologie) die Lebensqualität von Betroffenen verbessert hat?

Dr. med. Amram: Bestimmte onkologische Behandlungen können Nebenwirkungen hervorrufen (vaginale Trockenheit, Dyspareunie, verminderte Libido, vorzeitige Menopause, Fruchtbarkeitsstörungen, erektile Dysfunktion …), die direkte Auswirkungen auf die sexuelle Gesundheit haben. 

Die Onkochirurgie kann auch Auswirkungen auf das Körperbild und das Selbstwertgefühl haben. Medizinisches Fachpersonal, das Onkologiepatient:innen betreut, muss sich bereits bei der Diagnosestellung und während der gesamten Behandlungsdauer, auch in Palliativsituationen, dieser Probleme im Hinblick auf die sexuelle Gesundheit bewusst sein und die Patient:innen an Spezialist:innen überweisen können. Für eine optimale Versorgung braucht es also die Zusammenarbeit verschiedener Gesundheitsfachkräfte (aus den Bereichen Onkologie, Chirurgie, Radioonkologie, Psychiatrie, Sexologie, Pflege, Physiotherapie, Psychologie …). 

Wie wirken sich proktologische Probleme wie Inkontinenz oder Dammschmerzen auf die sexuelle Gesundheit und das Wohlbefinden der Patient:innen aus?

Prof. Dr. Ris: Harn- oder Stuhlinkontinenz und Dammschmerzen sind häufige Folgen von onkologischen Behandlungen, insbesondere beim Mastdarmkrebs. Diese Probleme beeinträchtigen das Wohlbefinden massiv, da sie intime Funktionen wie den Stuhlgang betreffen und oft als Tabu gelten.

Beispielsweise kann ein/e inkontinente/r Patient:in aus Angst vor einem Malheur jeglichen intimen Kontakt vermeiden, was isolierend sein kann und das Selbstvertrauen belastet. Diese Probleme betreffen auch die Sexualität, vor allem die Entwicklung der Sexualpraktiken: Heutzutage haben 50% der Frauen Erfahrungen mit Analsexualität, im Vergleich zu 15% vor 40 Jahren. Mit Angeboten wie Physiotherapie, Osteopathie oder psycho-sexologischer Betreuung helfen wir den Patient:innen, ihr körperliches und emotionales Wohlbefinden wiederzuerlangen – trotz teils invasiver Operationen.

Was raten Sie jemandem, der unsicher ist, ober er intime Probleme mit seinem Arzt besprechen soll – sei es in der Onkologie oder in der Proktologie?

Dr. med. Amram: Es ist wichtig, sich zu trauen, über seine Sorgen und Bedürfnisse zu sprechen! Es ist von entscheidender Bedeutung, sich mit Problemen der sexuellen Gesundheit auseinanderzusetzen, da diese Aspekte die Lebensqualität sowohl während als auch nach der Krebserkrankung erheblich beeinflussen können. 

Patient:innen sollten stets ihre Bedenken ausdrücken, auch wenn sie manchmal schwer anzusprechen sind und tabu, peinlich, beschämend oder sogar unwürdig erscheinen können. Das medizinische Fachpersonal ist da, um zuzuhören, zu unterstützen und zu begleiten, in allen Aspekten des Behandlungspfades, einschliesslich der intimen Dimension. Es kann Informationen zu möglichen Nebenwirkungen bereitstellen, Handlungsempfehlungen geben und bei Bedarf an Fachpersonen oder Unterstützungsstrukturen verweisen. 

Prof. Dr. Ris: Ich rate, direkt zu sein, auch wenn es schwierig ist. Die Gesundheitsfachpersonen sind da, um Ihnen zu helfen, ohne zu urteilen. Zum Beispiel sage ich meinen Patient:innen vor einer Operation oft: «Auch wenn Sie sich gerade nicht damit beschäftigen, sollten Sie nach der Operation Probleme mit dem Stuhlgang, der Sexualität oder Schmerzen haben, sind wir für Sie da.» Wenden Sie sich bei Unsicherheiten an eine andere Fachperson (diese muss kein:e Mediziner:in sein) oder an eine Selbsthilfegruppe, aber sprechen Sie darüber.

Welche Kernbotschaften zur Bedeutung der sexuellen Gesundheit im Zusammenhang mit Krebs oder proktologischen Beschwerden würden Sie der Öffentlichkeit gerne mitgeben?

Dr. med. Amram: Es ist von entscheidender Bedeutung, anzuerkennen, dass Krebs und seine Behandlungen erhebliche Auswirkungen auf die sexuelle Gesundheit der Betroffenen haben können, mit körperlichen, psychischen und zwischenmenschlichen Auswirkungen. Enttabuisieren wir sexuelle Gesundheit in der Onkologie, sensibilisieren wir medizinisches Fachpersonal und die Öffentlichkeit und begleiten wir Betroffene weiterhin angemessen, um ihre Lebensqualität zu erhalten.

Prof. Dr. Ris: Patient:innen – trauen Sie sich, darüber zu sprechen! Medizinische Fachpersonen – trauen Sie sich, nachzufragen! Und denken Sie daran: Alle Sexualpraktiken, ob klassisch oder nicht, verdienen Respekt und Begleitung.

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?
Abonnieren Sie die Printversion von Gesundheitsecho, um Zugriff auf alle Informationen zum Thema zu haben: Erfahrungsberichte, Tests, nützliche Adressen, Infografiken und mehr.
Also warten Sie nicht länger!
CHF39.00
Oder abonnieren Sie direkt 8 Ausgaben!
CHF78.00

Loading

Teilen auf

Facebook

Weitere Artikel

Diabetes-Lexikon

Hypoglykämie (Unterzuckerung): Übermässiges Absinken des Blutzuckerspiegels, das Symptome wie Zittern, Schwitzen und Verwirrung hervorrufen kann. Hyperglykämie (Überzuckerung): Stark erhöhter Blutzuckerwert, ein häufiges Symptom von unkontrolliertem

Loading

Mehr lesen »

Parenterale Ernährung: ernährung jenseits der Grenzen

Stellen Sie sich vor, Ihr Verdauungstrakt ist eine Autobahn, blockiert durch einen Stau: Nichts kommt durch, weder die Nahrung noch die lebenswichtigen Nährstoffe, die den Körper versorgen. In solchen kritischen Momenten kann ein unsichtbarer, aber wirksamer Weg geöffnet werden, um Ihr Überleben zu sichern: die parenterale Ernährung. Sie ist weit mehr als eine Behandlung — sie ist oft die Rettung für Patientinnen und Patienten in kritischen Situationen. Dr. Nathalie Jacquelin-Ravel, Expertin für klinische und metabolische Ernährung, erklärt uns, wie dieser Ansatz es ermöglicht, die natürlichen Grenzen des Körpers zu umgehen und ihm neue Kraft zu verleihen – und manchmal sogar eine zweite Chance.

Loading

Mehr lesen »

Technologie im Mittelpunkt der Betreuung

Diabetes ist eine chronische Krankheit, die weltweit Millionen von Menschen betrifft. Obwohl die Krankheit immer besser verstanden wird, gibt es weiterhin viele Herausforderungen, um die Patient:innen in ihrem Alltag optimal zu unterstützen. Heute sprechen wir mit der Allgemeinmedizinerin Dr. Dominique Durrer, ehemals assoziierte Ärztin an den Universitätskliniken Genf und Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Adipositasforschung (ASEMO).

Loading

Mehr lesen »

Wie «Zombie-Zellen» uns im alter krank machen

Viele Jahre länger gesund und fit bleiben und sich noch mit 60 wie 40 fühlen! Was wir selbst tun können für diesen Turbo rückwärts, dazu haben Sie in meinen My Life-Kolumnen schon einiges erfahren. Aber es gibt noch unendlich viel Neues aus der Zellforschung zu berichten, zu Sport, Atmung, Zellen, auch Hitze und Kälte, Stressmanagement und vielem mehr. Doch lassen Sie mich heute schon mal ans «Eingemachte» gehen. Was sind denn die richtig starken Mittel, die uns verjüngen könnten, was ist die nächste grosse Hoffnung der Verjüngungsindustrie?

Loading

Mehr lesen »