
Chefarzt der Rheumatologieabteilung der Universitätskliniken Genf (HUG)
Rückenschmerzen oder Lumbalgie betreffen fast 80% aller Erwachsenen im Laufe ihres Lebens und sind damit eine der häufigsten Beschwerden unserer Zeit. Hinter ihnen verbergen sich zahlreiche falsche Überzeugungen, die in der kollektiven Vorstellung verankert sind und nicht nur das Leiden aufrechterhalten, sondern auch akute Schmerzen in ein chronisches Problem verwandeln können. Falsche Überzeugungen, die sowohl von Patient:innen als auch von einigen Angehörigen der Gesundheitsberufe geteilt werden, haben schädliche Auswirkungen: sie schüren Ängste und behindern eine optimale Heilung, da durch sie Rückenleiden oft unbehandelt bleiben. Um dieses wichtige Thema zu beleuchten, haben wir Prof. Dr. med. Stéphane Genevay befragt. Er ist stellvertretender Chefarzt der Rheumatologieabteilung der Universitätskliniken Genf (HUG) und Leiter des Programms ProMIDos, das sich der multidisziplinären Behandlung von Rückenschmerzen widmet. | Adeline Beijns
Was sind die häufigsten falschen Vorstellungen über Rückenschmerzen, sowohl bei Patient:innen als auch bei medizinischem Fachpersonal?
Die vorherrschende Meinung ist, dass der Rücken empfindlich ist und ständig geschützt werden muss, indem man Lasten mit geradem Rücken und gebeugten Knien tragen oder bestimmte Bewegungen vermeiden sollte. Der Rücken ist jedoch einer der stärksten Körperteile, und eine übertriebene Vorsicht ist schädlich und verursacht Verspannungen. Bei Kindern führen Aufforderungen wie «steh gerade!» aus sozialen Gründen zu Muskelschmerzen. Rückenschmerzen werden nicht durch vollständige Ruhe geheilt, sondern durch Bewegung. Die richtige Vorbeugung ist es, ein bis drei Mal pro Woche mindestens 30 Minuten Sport zu treiben.
Inwiefern können diese falschen Überzeugungen zur Chronifizierung von Rückenschmerzen beitragen?
Chronische Schmerzen sind Schmerzen, die mindestens drei Monate andauern. Falsche Überzeugungen spielen eine zentrale Rolle bei der Chronifizierung von Rückenschmerzen und führen zu Angst vor Bewegung. Diese Angst fördert Untätigkeit, schwächt die Muskeln und verlängert somit Schmerzen. Die Aufgabe des Arztes oder der Ärztin ist es, diesen Kreislauf zu durchbrechen und eine schrittweise Wiederaufnahme der Bewegung zu fördern. Falsche Vorstellungen verursachen zwar keine Rückenschmerzen, fördern aber unangemessene Vermeidungsstrategien und verwandeln ein akutes in ein chronisches Leiden.
Warum werden trotz wissenschaftlicher Beweise bestimmte falsche Vorstellungen weiterhin gelehrt und weitergegeben?
Diese Vorstellungen sind im kollektiven Unterbewusstsein des Westens verankert. In der medizinischen Ausbildung wird immer noch auf Laborexperimente Bezug genommen, die die Anfälligkeit des Rückens übertreiben. Eine kürzlich in Genf durchgeführte Umfrage zeigt, dass Medizinstudent:innen aufgrund veralteter Ausbildungsinhalte immer noch an diesen falschen Vorstellungen festhalten.
Was kann man gegen diese Überzeugungen tun und wie kann man die Patient:innenversorgung verbessern?
Umfassende und regelmässige Werbekampagnen – in der Regel mit hohen Budgets – sind unerlässlich. Als Beispiel kann hier eine australische Kampagne aus den 2000er Jahren namens «Back Pain: Donʼt Take It Lying Down» (Rückenschmerzen: nehmen Sie sie nicht hin) genannt werden, die im Fernsehen mit Stars und Sportler:innen ausgestrahlt wurde mit dem Ziel, Bewegung zu fördern und Kosten und Behinderungen zu reduzieren. In Frankreich war auch die bekannte Kampagne der Krankenversicherung («Rückenschmerzen? Die richtige Behandlung ist Bewegung») sehr wirksam.
Welche Rolle spielen psychologische und soziologische Faktoren für das Auftreten und Fortbestehen von Rückenschmerzen?
Psychologisch gesehen haben Stress, Angst und Traurigkeit neurologische Auswirkungen, die Schmerzen verstärken. Sozioökonomisch gesehen verfügen benachteiligte Menschen leider oft über eine unzureichende medizinische Bildung, wodurch sie weniger informiert und anfälliger für Schmerzen und Krankheiten sind.
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