
Der diabetische Fuss ist eine schwerwiegende Komplikation bei Menschen mit Diabetes, die oft zu spät erkannt wird. Die Erkrankung kann schleichend beginnen und lange unbemerkt bleiben. Chronische Wunden, Infektionen und Amputationen lassen sich jedoch mit der richtigen Vorsorge und frühzeitigen Behandlung in vielen Fällen verhindern. Neben der medizinischen Versorgung spielen Prävention, interdisziplinäre Zusammenarbeit und das Bewusstsein der Betroffenen eine zentrale Rolle. Im Gespräch gibt Dr. med. Hans Brunner (https://www.drbrunner.ch), Spezialist für den diabetischen Fuss, Einblick in die Vielschichtigkeit dieser Erkrankung und schildert die aktuellen Herausforderungen in der Versorgung. | Noémie Aeschlimann
Was versteht man unter dem diabetischen Fuss, und was sind die Hauptursachen?
Im Jahr 1999 hat die WHO definiert, dass der diabetische Fuss als Infektion oder Ulzeration und/oder als Zerstörung von tiefem Gewebe zu verstehen ist, in Kombination mit Nervenschädigungen und verschiedenen Graden der arteriellen Verschlusskrankheit. Entsprechend vielfältig ist das klinische Bild. Es gibt nicht den einen diabetischen Fuss, sondern ganz unterschiedliche Ausprägungen: Druckstellen, Risse, Wunden oder kleine Geschwüre an Fusssohle, Ferse oder Zehen. Typischerweise tritt der diabetische Fuss bei älteren Menschen mit langjährigem Diabetes auf. Es gibt aber auch Fälle, bei denen das Problem mit dem Fuss beginnt und der Diabetes erst dann entdeckt wird.
Ein geringes Schmerzempfinden ist ein zentrales Merkmal. Die Schädigung kleinster Nerven erklärt diese reduzierte Sensibilität. Eine gestörte Schweissproduktion führt zu trockener, rissiger Haut. Die Kombination mit Durchblutungsstörungen, bei etwa einem Drittel der Betroffenen, behindert die Wundheilung. Kleinste Verletzungen können sich infizieren, oft unbemerkt, bis es zu riechen beginnt. Hinzu kommen häufige Fehlstellungen wie Krallenzehen, die weitere Druckstellen begünstigen.
Vor allem bei schlecht eingestelltem Diabetes, unzureichender Fusspflege oder problematischen Schuhen steigt das Risiko erheblich. Etwa ein Viertel der Diabetiker:innen entwickelt im Laufe der Zeit einen diabetischen Fuss. Diese Zahl zeigt, wie verbreitet das Problem tat- sächlich ist. Man geht von 25‘000 Neuerkrankungen pro Jahr aus.
Auf welche Warnzeichen sollten Diabetiker:innen besonders achten?
Menschen mit Diabetes sollten sich um ihre Füsse genauso sorgfältig kümmern wie um ihre Hände. Gerade im Alter ist das nicht zu unterschätzen. Warnzeichen sind Haut- oder Nagelverfärbungen, Risse, Rötungen, verdickte Nägel, eingewachsene Nägel oder Pilzinfektionen. Letztere können Eintrittspforten für Bakterien darstellen. Auch bei vermindertem Schmerz- oder Temperaturempfinden gilt: Wunden an den Füssen müssen immer ärztlich beurteilt werden, auch wenn sie nicht schmerzen.
Bei wiederkehrenden Wunden an den gleichen Stellen sollte man ebenfalls ärztlichen Rat einholen. Wichtig sind ausserdem eine gute Blutzuckereinstellung, tägliche Fusskontrollen und der Verzicht auf Selbstbehandlung bei ungewöhnlichen Hautveränderungen. Wer seine Füsse regelmässig inspiziert, am besten mit einem Spiegel oder mit Hilfe einer zweiten Person, kann frühzeitig Veränderungen bemerken. Ein Hausschuh mit Fersenkappe bietet deutlich mehr Halt als eine einfache Sandale und schützt besser vor Verletzungen im Alltag.
Was sind die häufigsten Fehler, die Patient:innen bei der Pflege ihrer Füsse machen?
Mir ist das ganz wichtig: Man darf Patient:innen keinesfalls die Schuld geben. Gerade ältere Menschen haben Mühe, sich um ihre Füsse zu sorgen. Auch Barfusslaufen ist nicht immer ungefährlich, weil man kleine Verletzungen nicht spürt und sie deshalb übersehen kann. Das Schneiden der Nägel oder das Entfernen von Hornhaut sollte nicht in Eigenregie erfolgen. Auch ungeeignetes Schuhwerk ist ein häufiger Fehler. Oft werden Schuhe nach Aussehen statt nach Funktion ausgewählt. Die Füsse verdienen mehr Aufmerksamkeit, vor allem, wenn das Gefühl darin bereits eingeschränkt ist.
Inwiefern kann eine frühzeitige Behandlung schwerwiegende Komplikationen oder sogar Amputationen verhindern?
Die frühzeitige Behandlung ist entscheidend. Je früher eine Wunde erkannt und versorgt wird, desto eher kann sie heilen. Nach vier bis sechs Wochen spricht man bei einer offenen Wunde von einer chronischen Wunde. Solche Wunden heilen nicht mehr einfach ab, das Risiko für Infektionen steigt deutlich. Im schlimmsten Fall kann es zu einer Knocheninfektion oder gar zu einer Sepsis kommen. Auch eine Entgleisung des Blutzuckers ist möglich. In solchen Fällen kann eine Amputation lebensrettend sein.
Ziel muss es sein, bereits kleine Wunden mit professioneller Wundpflege und passendem Schuhwerk frühzeitig zur Abheilung zu bringen. Ambulante Wundsprechstunden, multidisziplinäre Zusammenarbeit und regelmässige Verlaufskontrollen sind dabei essenziell. Je früher die Behandlung beginnt, desto besser sind die Heilungschancen und desto geringer ist die Gefahr eines irreversiblen Schadens.
Ihr letztes Wort?
Grosse Amputationen gilt es unbedingt zu verhindern. Mein Lehrer und Mentor Prof. Dr. med. René Baumgartner hat gezeigt, wie das möglich ist. Ich bin seit den 1980er Jahren Arzt und stelle im Jahr 2025 fest, dass es mir heute aufgrund der Fallkostenpauschalen bei allgemeinversicherten Patient:innen nicht mehr möglich ist, alles zu tun, was ich medizinisch tun sollte. Diese Limitierungen lassen sich nur durch Zusatzversicherungen umgehen, was mich traurig macht. Das medizinische Wissen ist da, aber in der Realität können wir es oft nicht mehr anwenden.
Immerhin funktioniert die Versorgung mit Schuhen und Prothesen in der Schweiz sehr gut. Wir steuern zunehmend auf eine Zweiklassenmedizin zu. Dabei könnten wir so viel mehr tun, medizinisch, präventiv und menschlich. Das Ziel muss sein, die Lebensqualität der Betroffenen zu erhalten, grosse Eingriffe zu vermeiden und mehr Ressourcen für eine gute, flächendeckende Versorgung zu schaffen.

