Wenn das Tempo nicht mehr passt

Julie

Julie Cartwright, 43, war schon immer ein Mensch voller Energie. Zehn Jahre lang trainierte sie Kampfsport,
später spezialisierte sie sich auf Luftakrobatik. Daneben absolvierte sie ihr Masterstudium, arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin und gründete mit einer befreundeten Person ein eigenes Luftakrobatik-Studio. Alles war in Bewegung, sie funktionierte perfekt im Hochleistungsmodus: körperlich, beruflich und mental. | Noémie Aeschlimann

Ein Kribbeln, das bleibt?

Dann kam dieser eine Morgen. Julie wachte auf und ihre Lippe kribbelte und fühlte sich merkwürdig an. Zuerst vermutete sie eine harmlose Reizung durch das Training, doch das Gefühl verschwand nicht. Es folgten Schmerzen, Schluckstörungen, schlaflose Nächte. Julie spürte, dass etwas nicht stimmte. Nach vielen Untersuchungen über mehrere Wochen erhielt sie dann die Diagnose: Multiple Sklerose.

Noch am Tag der Diagnose sass sie im Flugzeug nach New York, als wäre nichts gewesen. Nach aussen machte sie einfach weiter, doch innerlich war nichts mehr wie zuvor. Die Krankheit widersprach allem, wofür ihr Leben bis dahin gestanden hatte: dem hohen Tempo, der körperlichen Stärke, dem Gefühl, alles im Griff zu haben.

Funktionieren bis zum Limit

Zurück in der Schweiz versuchte Julie, an ihrem bisherigen Leben festzuhalten. Sie stand weiterhin im Studio, unterrichtete mit derselben Leidenschaft, entwickelte neue Ideen und hielt den Betrieb am Laufen. Nur wenige wussten, was wirklich in ihr vorging. Eine Freundin hatte ihr die wichtigsten Informationen zur Krankheit und Therapie als Dokument zusammengestellt, das ersparte ihr langes Suchen im Internet und gab ihr in der ersten Zeit etwas Orientierung, manchmal sogar heute noch. Die zunehmenden körperlichen Symptome der regelmässigen Schübe, wie beispielsweise chronische Schmerzen in den Händen und Unterarmen oder ein starker Schwindel, der über Monate anhielt und sie kaum noch laufen liess, versuchte sie zuerst zu ignorieren.

Doch irgendwann wurde selbst die Bewältigung des Alltags zur Herausforderung, das Unterrichten kostete immer mehr Kraft und ihre Pflichten begannen, sie zu überfordern. Schliesslich zog sie die Reissleine. Sie entschied sich zunächst, ihre Anstellung zu reduzieren und später zu kündigen, um sich selbständig zu machen. Als auch das nichts half, entschied sie sich, ihr geliebtes Studio loszulassen und zog für eine Weile ins Wohnmobil, nicht um zu fliehen, sondern um durchzuatmen. Der Rückzug ins Reduzierte war ein bewusster Schritt, um zur Ruhe zu kommen und herauszufinden, was ihr wirklich guttut.

Neue Wege, neue Rollen

Den Leistungssport liess sie schweren Herzens hinter sich. Die Zeit der körperlichen Höchstleistungen war vorbei und musste der dringend benötigten Ruhe weichen. Julie richtete den Blick nach vorn und fand neue Aufgaben, die sie mit Überzeugung erfüllen. Lange wollte sie es ohne Medikamente versuchen, aber irgendwann ging es nicht mehr. Seit zwei Jahren nimmt sie nun ein Medikament, das den Verlauf ihrer Krankheit stabilisiert und mit dem sie sich wohlfühlt.

Heute arbeitet sie bei der Stiftung MyHandicap und deren Plattform EnableMe, einem Onlineportal für Menschen mit Einschränkungen und chronischen Erkrankungen, das betroffenen Personen Information, Austausch und Unterstützung bietet. Dort leitet Julie das Peer-Programm, berät hilfesuchende Menschen, die beispielsweise gerade erst ihre MS-Diagnose erhalten haben und vernetzt diese mit ehrenamtlichen Peer-Helfer:innen. Zum ersten Mal sprach sie nach vielen Jahren öffentlich über ihre Erkrankung und so wurde ihre Geschichte zur Ressource und ihre Erfahrung zur Stärke. Julie erinnert sich, wie sehr ihr damals eine andere MS-Betroffene geholfen hatte. Genauso begegnet sie heute anderen.

Was wirklich zählt

Für Julie ist es die Ungewissheit, die am schwersten wiegt. Nicht zu wissen, wie es dem Körper morgen geht, fordert sie immer wieder heraus. Gleichzeitig ist es genau diese Unsicherheit, die ihren Blick auf das Leben verändert hat und ihr Hoffnung gibt. Sie achtet heute mehr auf sich, trifft bewusster Entscheidungen und fragt sich bei vielem, ob es wirklich ihre Energie wert ist. Zeit, Kraft und Gesundheit sind für sie keine Selbstverständlichkeit mehr, sondern etwas, das sie schützt und pflegt.

An schwierigen Tagen schaut sie einfach ihre Hände an. Wenn sie funktionieren, ist das Grund genug, weiterzumachen. Die Krankheit hat vieles verändert, aber nicht alles genommen. Im Gegenteil, sie hat Julie gezwungen, loszulassen, sich selbst neu zu begegnen und ihr Leben anders zu gestalten. Und obwohl es heute ruhiger geworden ist, fühlt es sich nicht weniger lebendig an.

 

Die Unabhängigkeit der Meinung der Patientin wurde vollständig respektiert


Die Unabhängigkeit der Meinung der Stiftung wurde vollständig respektiert. Dieser Artikel wurde mit freundlicher Unterstützung von Roche Pharma (Schweiz) AG, Novartis Pharma Schweiz AG & Teva Pharma AG erstellt

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