
Die Diagnose Krebs, egal ob sie die Brust, den Gebärmutterhals oder andere Organe betrifft, verändert das Leben in vielerlei Hinsicht. Trotz der körperlichen und emotionalen Herausforderungen bleibt die oft in den Hintergrund gedrängte Sexualität ein wichtiger Pfeiler der Lebensqualität. Doch die Behandlung (Mastektomie, Chemotherapie, Hormontherapie, Prostatektomie) und deren Auswirkungen auf den Körper und das Selbstwertgefühl können zu Herausforderung in diesem Bereich führen. Um mehr über dieses sensible Thema zu erfahren, haben wir mit Dr. med. Lakshmi Waber, Psychiater, Sexologe und Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Sexologie, gesprochen. Im Interview hat er uns Tipps in Bezug auf Herausforderungen, Lösungen und Hoffnungen verraten, die Frauen und Männer dabei unterstützen können, Intimität und Lust nach einer Krebserkrankung neu zu entdecken. | Adeline Beijns
Warum empfehlen Sie eine sexologische Beratung vor dem Beginn einer Krebstherapie?
Eine sexologische Beratung vor einer Therapie ist wichtig, um von Anfang an einen begleitenden Rahmen zu schaffen. Dies ermöglicht einen Einstieg in eine Kommunikation über Sexualität. Dabei werden die Auswirkungen von Therapien antizipiert und die Patientin und ihr Partner können auf die bevorstehenden Veränderungen vorbereitet werden. Durch ein frühzeitiges Gespräch kann eine kontinuierliche Unterstützung während und nach der Behandlung gestaltet werden, die dabei hilft, die Freude am eigenen Körper und an Intimität wiederzuerlangen. Präventive Interventionen helfen, Ängste abzubauen und die Resilienz gegenüber künftigen He- rausforderungen zu stärken – sowohl bei der Patientin als auch beim Paar.
Welches sind die hauptsächlichen körperlichen Auswirkungen von Krebs und Krebsbehandlungen auf die Sexualität?
Krebsbehandlungen wie Operationen, Chemotherapien oder Hormontherapien führen zu vielfältigen Beeinträchtigungen in Bezug auf körperliche Funktionen, Gewebe, Nerven und Hormone. Beispielsweise kann eine vorzeitige Menopause zu Scheidentrockenheit oder lokaler Sklerose führen, manchmal direkt im Genitalbereich, was den Geschlechtsverkehr schmerzhaft macht.
Diese körperlichen Veränderungen wirken sich nicht nur auf die Sexualfunktion, darunter Lubrikation oder Erektion, sondern auch auf die Empfindlichkeit und das Wohlbefinden aus. Sie erfordern eine angepasste Behandlung, oft verbunden mit psychologischer Arbeit, um die Patientin auf dem Weg zur Akzeptanz ihres neuen Körpers zu begleiten.
Wie hilft prä- und postoperative sexologische Arbeit Patientinnen bei der Bewältigung von Herausforderungen im Zusammenhang mit ihrer Identität und ihrem Selbstbild?
Präoperativ konzentriert sich die sexologische Arbeit auf das Selbstbild: Es geht darum, wie die Patientin ihren Körper, ihre Weiblichkeit und ihre Sexualität wahrnimmt. Dies ebnet den Weg für eine bessere postoperative Erholung. Nach der Behandlung wird auf verschiedenen Ebenen gearbeitet: an der Funktionalität, um Aspekte wie Lubrikation oder Vergnügen wiederherzustellen, aber auch an der Identität. Häufig stellen sich Patientinnen tiefgründige Fragen: «Wer bin ich jetzt? Kann ich mich immer noch als Frau bezeichnen?» Das Selbstwertgefühl und das Körperbild sind durch Schmerz, Empfindungsverlust und das Gefühl, «vom eigenen Körper verraten worden zu sein», besonders beeinträchtigt. Die Patientinnen werden dabei unterstützt, eine neue Beziehung zum eigenen Körper aufzubauen und sich in diesem wieder wohlzufühlen, zum Beispiel durch Achtsamkeitsübungen oder Körpertherapie.
Wie wirken sich Krebs und seine Behandlungen auf den Partner aus und welche Rolle spielt er für das Wiederentdecken der Sexualität?
Die Auswirkungen einer Krebserkrankung beschränken sich nicht auf die Patientin, auch der Partner ist stark betroffen, sowohl emotional als auch in der Beziehungsdynamik. Er empfindet möglicherweise Angst oder Frustration oder hat aufgrund der körperlichen Veränderungen bei seiner Partnerin Schwierigkeiten beim Umgang mit Intimität. Dabei spielt er eine zentrale Rolle dafür, dass die Patientin wieder eine Verbindung zu ihrer Sexualität aufbauen kann. Hier eignen sich praktische Übungen wie Massagen oder gemeinsame Bäder, die Intimität ohne
Druck fördern. Andere Übungen ermöglichen es dem Paar, den veränderten Körper der Patientin zu erotisieren, indem neue Formen des Vergnügens und der Zweisamkeit entdeckt werden. Die Einbindung des Partners in den Prozess, beispielsweise durch gemeinsame Beratungen, stärkt die Widerstandskraft der Partnerschaft.
Was sind die wichtigsten Herausforderungen, wenn es darum geht, Patientinnen zu helfen, sich nach einer Krebserkrankung im eigenen Körper wieder wohlzufühlen?
Das Wohlfühlen im eigenen Körper ist eine zentrale Herausforderung, denn Krebs und seine Therapien verändern das Körperbild und die Beziehung zu sich selbst. Die Patientinnen stehen vor zwei grossen Hürden: Schmerz und Empfindungsverlust, die die Beziehung zum eigenen Körper beeinträchtigen, und das Gefühl des Verrats, weil «ihr Körper sie angegriffen hat».
Die sexologische Arbeit soll sie dabei unterstützen, eine neue und positive Beziehung zu ihrem veränderten Körper aufzubauen. Dazu gehört die Arbeit an der sexuellen Identität, dem Selbstwertgefühl und der Wiederentdeckung des Vergnügens, oft durch kombinierte Ansätze: Therapien, Körperübungen und Gespräche mit dem Partner. Das Ziel ist es, diese Herausforderung in eine Chance zu verwandeln, die Beziehung zu sich selbst und zur Intimität neu zu definieren.

