Gefangen im Gesundheitswahn – Einblicke in eine unsichtbare Sucht

Gesundheitswahn

Wenn das Streben nach Gesundheit zwanghaft wird, kippt das Gleichgewicht. Heute entstehen neue Formen der Sucht, die sich oft hinter als positiv empfundenen Verhaltensweisen verbergen: Sport und gesunde Ernährung. Bigorexie, die Sucht nach körperlicher Betätigung, und Orthorexie, das zwanghafte Streben nach gesundem Essen, können zu einem unsichtbaren Gefängnis werden. Jeanne Spachat, Autorin des Buches «La nouvelle vie d’un caméléon», hat diese extremen Verhaltensweisen selbst erlebt. Heute erzählt sie von ihrem inneren Kampf, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden. | Adeline Beijns

Wie haben Sie gemerkt, dass Ihre Begeisterung für Sport und Ihre Bemühungen, gesund zu essen, zum Problem wurden?

Irgendwann war es mein Körper, der auf drastische Weise die Alarmglocke schlug. Lange war ich überzeugt, dass mir diese extrem strenge Lebensweise, die intensive sportliche Betätigung und die ständige Überwachung der Ernährung guttun würden. Ich war überzeugt, dass ich absolut alles im Griff hatte, dass ich das Patentrezept für einen ausgeglichenen Körper und Geist gefunden hatte. Doch nach und nach wurde ich von meinen Routinen völlig abhängig: Jede verpasste Trainingseinheit löste ein starkes Schuldgefühl in mir aus, und jedes «verbotene» Nahrungsmittel weckte eine unkontrollierbare Angst. Ich hörte nicht mehr auf meinen Körper, sondern pushte ihn immer mehr.

Bis ich eines Tages eine besonders schwere Gürtelrose auslöste – ein Schmerz, den ich vorher noch nie gespürt hatte. Als ich notfallmässig ins Spital eingeliefert wurde, wurde mir plötzlich bewusst, dass mein Lebensstil alles andere als gesund und in Wirklichkeit destruktiv war. Dieser Moment hat mich wachgerüttelt – ein unbestreitbares Zeichen, dass ich viel zu weit gegangen war.

Wie wirkten sich die Süchte auf Ihr soziales Leben zund Ihre Beziehungen aus?

Diese Süchte haben mein Verhältnis zu meinem Umfeld stark beeinträchtigt. Durch die zwanghafte Überwachung meiner Ernährung und die tägliche sportliche Betätigung schottete ich mich allmählich von anderen ab. Einladungen zum Essen oder zu Veranstaltungen, durch die ich die Kontrolle über meine Ernährung verlieren oder ein Training versäumen könnte, lehnte ich konsequent ab. Ich konnte gemeinsame Essen nicht mehr ertragen, weil ich mich dauernd beurteilt fühlte.

Meine strenge Auswahl der Nahrungsmittel führte zu endlosen Diskussionen, bei denen ich immer wieder rechtfertigen musste, was ich ass und was nicht. Die Blicke der anderen wurden unerträglich, und ich zog mich in eine Einsamkeit zurück, die mich zu beschützen schien, aber in Wirklichkeit alles schlimmer machte. Allmählich verkleinerte sich mein soziales Umfeld so stark, dass ich schliesslich völlig isoliert und in dieser Perfektionssucht gefangen war.

Welche Rolle hat Ihrer Meinung nach Ihre familiäre Vergangenheit bei der Entstehung dieser zwanghaften Verhaltensweisen gespielt?

Meine Kindheit war geprägt von einem sehr instabilen Umfeld mit einem gewalttätigen Vater. In diesem Chaos habe ich schon sehr jung versucht, alles zu kontrollieren: meinen Körper, mein Essen, meine schulischen Leistungen. Diese zwanghaften Verhaltensweisen waren eine unbewusste Art, mit der ständigen Angst und der inneren Leere, die ich seit meiner Kindheit verspürte, umzugehen.

Was hat Ihnen bewusst gemacht, dass eine Veränderung nötig war, und Ihren Genesungsprozess eingeleitet?

Auslöser war die Gesundheitskrise mit meiner Gürtelrose, aber auch die tiefe emotionale Erschöpfung, die sich über all die Jahre hinweg angestaut hatte, in denen ich eine Rolle spielte, um den Erwartungen anderer gerecht zu werden. Dieser Moment der extremen Erschöpfung wirkte wie eine Offenbarung. Mir wurde klar, dass ich loslassen, Hilfe suchen und vor allem meine Schwächen akzeptieren muss.

Was raten Sie heute jemandem, der mit diesen Formen von Sucht zu kämpfen hat?

Ich würde raten, diese Signale ernst zu nehmen, bevor es zu einem Punkt kommt, an dem man körperlichen oder psychischen zusammenbricht. Es ist wichtig zu akzeptieren, dass Hilfe zu holen Stärke zeigt – nicht Schwäche. Wieder zu sich selbst zu finden, erfordert ein aufmerksames Hören auf den eigenen Körper und seine Emotionen, auch wenn dieser Weg schwierig ist. Um sich von destruktiven Verhaltensweisen dauerhaft zu verabschieden, ist oft professionelle Unterstützung nötig.

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