Wenn Tinte die Seele heilt: Einblick in die Welt der therapeutischen Tätowierung

Laura Vicino

Tätowierungen sind nicht nur eine künstlerische Ausdrucksform oder ein blosser Trend. Es kann auch eine echte Unterstützung auf dem Weg der Heilung oder des Wiederaufbaus sein, sei es, um die Folgen eines Unfalls, einer Operation oder einer Krankheit zu überwinden. Laura Vicino, Hautspezialistin und Unternehmerin, hat diesen Therapieansatz zu ihrem Spezialgebiet gemacht. Heute erzählt sie uns, wie Tinte und Kreativität dabei helfen können, den eigenen Körper wieder anzunehmen und Selbstvertrauen zu gewinnen. | Adeline Beijns

Zu Beginn: Was hat Sie dazu motiviert, Ihre Expertise im Bereich der therapeutischen Tätowierung zu entwickeln?

Seit meiner Jugend habe ich mich in der Welt der medizinischen und ästhetischen Tätowierungen bewegt. Meine Mutter war eine echte Pionierin auf diesem Gebiet und setzte sich für die Entwicklung von 100% natürlichen Pigmenten ein, wodurch ich sofort ein Bewusstsein für die Bedeutung von Qualität und Sicherheit entwickelt habe. Mir wurde schnell klar, dass Tätowierungen die Lebensqualität vieler Menschen verbessern können, z. B. durch das Wiederherstellen von Brustwarzenhöfen nach einer Mastektomie, das Verdecken von Narben oder Verbrennungen, das Nachziehen von Augenbrauen oder sogar das Korrigieren einer Hasenscharte. Es geht natürlich um die ästhetische Verbesserung, aber vor allem ist es ein zutiefst menschlicher Akt: Wenn man einen körperlichen Makel korrigiert, stellt man damit auch das Selbstwertgefühl wieder her. Mir wurde bewusst, dass diese sorgfältige und zugleich behutsame Tätigkeit eine meiner grössten Leidenschaften ist und dass sie echte Wiedergeburten ermöglichen kann.

Inwiefern kann diese Form der Tätowierung einer Person helfen, nach einer Operation oder einem Trauma wieder eine unbelastete Verbindung zu ihrem Körper herzustellen?

Wenn man eine schwere Operation oder einen Unfall überstanden hat, kann man das Gefühl haben, dass der Körper einem entgleitet, als würde er einen verraten. Eine therapeutische Tätowierung füllt dann eine Lücke: Sie ermöglicht es, eine schmerzhafte Narbe, eine rekonstruierte Brust oder eine Verbrennung in ein Zeichen der Stärke und Resilienz zu verwandeln. Meine Klientinnen sind oft Frauen, die eine Mastektomie hatten, aber auch Menschen mit Operationsnarben oder Narben, die durch Unfälle verursacht wurden. Für alle bleibt das Ziel dasselbe: sich ihr Erscheinungsbild wieder anzueignen und eine traumatische Erinnerung in etwas Gelasseneres zu verwandeln.

Muss man bestimmte Voraussetzungen erfüllen, bevor man sich ein solches Tattoo stechen lässt? Ist das für jeden geeignet?

Jeder Fall ist einzigartig. Im Allgemeinen warte ich, bis sich die Narbe stabilisiert hat und gut verheilt ist, was nach dem Eingriff mehrere Monate dauern kann. In der Regel wird von drei bis sechs Monaten gesprochen. Manchmal ist es notwendig, im Vorfeld mit dem Ärzteteam oder dem Chirurgen zu sprechen, um sicherzustellen, dass es keine Kontraindikationen gibt, insbesondere bei noch laufenden Behandlungen oder anhaltender Hautbrüchigkeit. 

Wenn Sie eine Tätowierung nach der Operation vorbereiten, welche technischen oder ästhetischen Vorsichtsmassnahmen müssen Sie treffen? Auf welche Schwierigkeiten stossen Sie?

Die grösste Komplexität ergibt sich aus der Tatsache, dass die Hautoberfläche oft unregelmässig ist und die Narben nicht unbedingt gleichmässig sind. Ich achte daher darauf, die Technik und den Druck der Nadel sowie die Wahl der Pigmente anzupassen, um die Empfindlichkeit der Haut zu berücksichtigen. Symmetrie ist ein weiteres wichtiges Thema, vor allem bei der Brustrekonstruktion: Es muss ein möglichst naturgetreues Ergebnis erzielt werden. Jede Sitzung (manchmal sind mehrere nötig) erfordert viel Präzision, aber auch Flexibilität, um sich an die Besonderheiten der jeweiligen Person anzupassen.

Diese Begleitung geht über den blossen Akt des Tätowierens hinaus. Wie gehen Sie mit dem emotionalen und psychologischen Aspekt bei Ihren Kunden um?

Ich lege grossen Wert auf das Zuhören und den Dialog. Viele meiner Klientinnen und Klienten haben ein Trauma erlebt, sei es körperlicher oder seelischer Art. Sie haben vielleicht Angst vor Schmerzen oder machen sich Sorgen, dass sie nicht das erhoffte Ergebnis erhalten.

Ich nehme mir daher die Zeit, ihre Erwartungen und Ängste zu verstehen, bevor ich anfange. Das ist übrigens einer der befriedigendsten Aspekte meines Berufs: das Gefühl zu haben, dass ich ihnen durch das Vertrauen, das sie mir entgegenbringen, helfen kann, einen entscheidenden Schritt in ihrem Rekonstruktionsprozess zu machen. 

Manchmal, wenn die Person noch nicht bereit ist, schlage ich vor, den Eingriff zu verschieben, um anschliessend unter den bestmöglichen Bedingungen arbeiten zu können.

Was würden Sie einer Person raten, die nach einem Unfall oder einer grösseren Operation eine therapeutische Tätowierung in Betracht zieht?

Der erste Ratschlag lautet, sich gut zu informieren und nichts zu überstürzen. Besprechen Sie sich dann mit einem Spezialisten, der Ihnen die am besten geeignete Technik erklären und Sie bei der Wahl des Musters oder der Farbe beraten kann. Nehmen Sie sich Zeit zum Nachdenken: Der Grundgedanke ist, dass Sie sich ein Tattoo stechen lassen, das zu Ihnen ganz persönlich passt und gleichzeitig Ihre Narbe und Ihre Geschichte respektiert. 

Viele Menschen fragen sich, ob es für diesen Schritt finanzielle Unterstützung oder eine Rückerstattung gibt. Wie sieht es in der Schweiz aus?

Therapeutische Tätowierungen werden in der Schweiz noch nicht automatisch von den Versicherungen erstattet, auch wenn für bestimmte Situationen Vereinbarungen getroffen werden können. Die Mentalität ändert sich und die Institutionen beginnen, den therapeutischen Wert dieser Handlungen anzuerkennen, aber es ist noch ein weiter Weg zu gehen. 

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?
Abonnieren Sie die Printversion von Gesundheitsecho, um Zugriff auf alle Informationen zum Thema zu haben: Erfahrungsberichte, Tests, nützliche Adressen, Infografiken und mehr.
Also warten Sie nicht länger!
CHF39.00
Oder abonnieren Sie direkt 8 Ausgaben!
CHF78.00

Loading

Teilen auf

Facebook

Weitere Artikel

Heuschnupfen: Wenn Pollen unseren Alltag beeinträchtigen

Heuschnupfen, auch saisonale allergische Rhinokonjunktivitis genannt, ist eine Erkrankung, von der ein erheblicher Teil der Schweizer Bevölkerung betroffen ist. Laut vorliegenden Daten leiden etwa 20% der Schweizer:innen an einer Pollenallergie1. Diese hohe Prävalenz unterstreicht, wie wichtig es ist, die Symptomatik, die Profile der am stärksten betroffenen Patient:innen, die vorbeugenden Massnahmen sowie die möglichen Komplikationen, die mit dieser Allergie verbunden sind, zu verstehen. Um diese Aspekte zu beleuchten, haben wir Dr. med. Lionel Arlettaz, Leitender Arzt der Abteilung Immuno-Allergologie am Zentralinstitut der Spitäler in Sitten, befragt.

Loading

Mehr lesen »

Romain, der ewige Mückenmagnet

Romain, 28 Jahre alt, liebt sein kleines Haus in der Nähe eines Flusses, umgeben von Natur. Morgens weckt ihn das Plätschern des Wassers, abends geniesst er den Sonnenuntergang auf seiner Terrasse. Alles könnte so idyllisch sein, doch diese mühsamen Mücken machen ihm einen Strich durch die Rechnung. Warum immer er von den Mücken gestochen wird, kann er sich nicht erklären. Aber irgendwie scheint er der Hauptgang ihres Buffets zu sein. Wenn er mit seinen Freund:innen draussen abhängt, kann er wetten, dass er am Ende mindestens zehn Mal mehr Stiche hat als alle anderen zusammen.

Loading

Mehr lesen »

Wenn der Sommer summt

Mit Frühling und Sommer kommen die warmen Tage, die langen Abende und die perfekte Zeit für Outdoor-Abenteuer. Egal ob Grillpartys mit Freund:innen, entspannte Spaziergänge in der Natur oder ausgedehnte Wanderungen. Jetzt heisst es, die Sonne und die frische Luft in vollen Zügen zu geniessen. Der Sommer bietet all die angenehmen Dinge, auf die wir uns das ganze Jahr über freuen: Sonnenschein, entspannte Stunden im Freien und das Gefühl, den Alltag hinter sich zu lassen. Wäre da nicht eine kleine, summende Schattenseite: Mücken. 

Loading

Mehr lesen »

Wenn ein Glukosesensor Noisette zu Hilfe kommt

Jacqueline, 42 Jahre alt, hat sich schon immer als bedingungslose Tierliebhaberin betrachtet. Anfang Januar bemerkt sie, dass Noisette, einer ihrer mittlerweile 13½-jährigen Kater, ein ungewöhnliches Verhalten zeigt: Er trinkt immer mehr Wasser, scheint es unablässig zu fordern und wirkt beinahe besessen davon, stets Zugang zu Wasser zu haben. Beunruhigt über diesen ungewöhnlichen Durst vereinbart sie einen Termin beim Tierarzt, um Klarheit zu schaffen.

Loading

Mehr lesen »

Der Schlüssel zu einem gut verwalteten Diabetes

Diabetes betrifft Millionen von Menschen auf der ganzen Welt und die Behandlung dieser Krankheit hängt von einem feinen Gleichgewicht zwischen medizinischer Betreuung, Technologie und Patientenengagement ab. In Lausanne setzt Dr. med. Daniela Sofra, eine engagierte Endokrinologin und Diabetologin, auf Teamarbeit. In diesem Interview beleuchtet sie die Bedeutung einer engen Zusammenarbeit mit Hausärzt:innen und die bahnbrechende Rolle, die CGM-Sensoren (Continuous Glucose Monitoring) im Leben der Patient:innen spielen.

Loading

Mehr lesen »