
Liebe ist ein komplexes und faszinierendes Gefühl, doch manchmal kann sie eine irrationale Wendung nehmen. Bei der Erotomanie (Liebeswahn), einer wenig bekannten, aber sehr interessanten psychischen Störung, glauben die Betroffenen fest daran, von jemandem geliebt zu werden – oft von einer sozial unerreichbaren Person. Um dieses Phänomen besser zu verstehen, haben wir mit Dr. Lakshmi Waber gesprochen, Facharzt für Psychiatrie und Sexualmedizin und Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Sexualmedizin. Er gibt spannende Einblicke in die Ursachen, Behandlungsansätze und die oft übersehenen Realitäten dieser Störung. Von Adeline Beijns
Können Sie uns erklären, was Erotomanie ist und wie sie sich äussert?
Erotomanie ist eine psychische Störung, die durch den wahnhaften Glauben gekennzeichnet ist, dass eine andere Person – oft von hohem sozialem Status oder unerreichbar – in einen verliebt sei. Diese Wahnvorstellung kann trotz eindeutiger Beweise für das Gegenteil fortbestehen. Das Syndrom der Erotomanie, auch Clérambault-Syndrom genannt, wurde erstmals im 19. Jahrhundert detailliert beschrieben.
Menschen, die an Erotomanie leiden, können neutrale Verhaltensweisen der begehrten Person – wie ein Lächeln oder ein einfacher Blick – als Zeichen der Liebe interpretieren. Die Störung kann sich in Verfolgungsverhalten, Belästigung oder sogar Aggression gegenüber der vermeintlich verliebten Person äussern. In einigen Fällen können die Folgen zu rechtlichen Massnahmen führen, wie etwa gerichtliche Schutzanordnungen, um die erotomane Person auf Distanz zu halten.
Was ist der Unterschied zwischen Erotomanie und einfacher Liebesobsession?
Der Hauptunterschied liegt in der wahnhaften Natur der Erotomanie. Eine Liebesobsession beruht oft auf intensiven Gefühlen und dem unbändigen Wunsch, mit jemandem zusammen zu sein. Bei der Erotomanie glaubt die Person fest daran, dass die andere Person in sie verliebt ist, auch wenn dies völlig unrealistisch ist.
Dieser Glaube ist unerschütterlich und wird oft von Interaktions- versuchen begleitet, die den Willen des Gegenübers ignorieren. Bei der Erotomanie nimmt der Erotomane keine Rücksicht auf die andere Person und respektiert weder persönliche noch gesetzliche Grenzen. Diese Rücksichtslosigkeit, zusammen mit der Missachtung der Gesetze, ist ein wesentliches Merkmal, das die Erotomanie von einer einfachen Liebesobsession unterscheidet.
Wie sieht ein typisches Profil einer Person mit Erotomanie aus?
Es ist schwierig, ein typisches Profil von Menschen mit Erotomanie zu erstellen, da diese Störung Menschen aller Altersgruppen, Geschlechter und sozialen Schichten betreffen kann. Es lässt sich jedoch feststellen, dass Frauen etwas häufiger von Erotomanie betroffen sind als Männer. Erotomane Menschen haben häufig Bindungsstörungen und psychische Traumata erlebt, die zur Entwicklung der Störung beitragen können. Diese Personen können Autoritätspersonen oder Personen des öffentlichen Lebens idealisieren, was oft der Grund dafür ist, dass das Objekt ihres Begehrens jemand ist, der unerreichbar ist.
Was sind mögliche Ursachen der Erotomanie?
Die Ursachen der Erotomanie sind oft multifaktoriell und umfassen unter anderem psychische Traumata in der Vorgeschichte und eine starke soziale Isolation, die zur Entwicklung dieser Störung beitragen können. Verlassenheitserfahrungen in der Kindheit, instabile Elternbeziehungen oder emotionaler Missbrauch können die Entwicklung einer dysfunktionalen Bindung begünstigen, die manchmal zu Erotomanie führt. Darüber hinaus können Schwierigkeiten beim Aufbau echter intimer Beziehungen im Erwachsenenalter das Phänomen verstärken, da die Person diese Defizite durch einen imaginären Liebeswahn kompensiert.
Welche Risiken sind mit Erotomanie verbunden, sowohl für die Person, die darunter leidet, als auch für die Person, um die es geht?
Zu den Risiken für die Person, die an Erotomanie leidet, gehören starkes emotionales Leiden und die Unfähigkeit, gesunde Liebesbeziehungen zu führen. Ein Risiko besteht darin, dass der Wahn überhandnimmt, die Person in Gefahr bringt und dazu führt, dass andere Aspekte des Lebens vernachlässigt werden. Der Wahn der Erotomanie kann zu Verhaltensweisen führen, die Person weiter isolieren und es ihr erschweren, die Realität zu erkennen. Zu den Risiken für die begehrte Person können Situationen gehören, in denen sie belästigt oder verängstigt wird, da das Verhalten der erotomanen Person als aufdringlich und bedrohlich empfunden werden kann. Diese Verhaltensweisen können vom wiederholten Versenden unerwünschter Nachrichten bis hin zu unerwünschten Versuchen, körperlichen Kontakt herzustellen, reichen und für beide Seiten zu einer Situation führen, in der sie sich in grosser Bedrängnis befinden.
Wie wird eine Erotomanie diagnostiziert?
Die Diagnose der Erotomanie beruht auf einer gründlichen klinischen Untersuchung, bei der Anzeichen für einen anhaltenden Liebeswahn und die Unfähigkeit der betroffenen Person, die eigenen Überzeugungen infrage zu stellen, festgestellt werden. Wie bei anderen wahnhaften Störungen kann die Diagnose auch aufgrund von Handlungen gestellt werden. Eine umfassende Anamnese ist ebenfalls wichtig, um den Kontext zu verstehen, in dem die Symptome aufgetreten sind, und um zu beurteilen, wie sich diese Überzeugungen auf den Alltag der betroffenen Person auswirken.
Wie wird Erotomanie behandelt?
Die Behandlung der Erotomanie hängt von der Schwere der Symptome, ihrer Intensität und dem Vorliegen von Begleiterkrankungen wie Depressionen oder anderen psychiatrischen Störungen ab. Sie kann antipsychotische Medikamente und eine Psychotherapie umfassen, die den Betroffenen helfen kann, die Störung besser zu verstehen und Strategien für den Umgang mit den Symptomen zu entwickeln.
Kann sich Erotomanie im Laufe der Zeit verändern oder wieder verschwinden?
Die Prognose der Erotomanie hängt von vielen Faktoren ab, und eine spontane Heilung ist in der Regel nur möglich, wenn die Störung leicht und relativ neu ist. In der Regel ist eine Behandlung erforderlich, manchmal sogar ein Krankenhausaufenthalt. Eine frühzeitige Intervention ist ratsam, um eine dauerhafte
Verfestigung der Störung sowie mögliche juristische Konsequenzen zu vermeiden.
