
Stellen Sie sich vor, Ihr Verdauungstrakt ist eine Autobahn, blockiert durch einen Stau: Nichts kommt durch, weder die Nahrung noch die lebenswichtigen Nährstoffe, die den Körper versorgen. In solchen kritischen Momenten kann ein unsichtbarer, aber wirksamer Weg geöffnet werden, um Ihr Überleben zu sichern: die parenterale Ernährung. Sie ist weit mehr als eine Behandlung — sie ist oft die Rettung für Patientinnen und Patienten in kritischen Situationen. Dr. Nathalie Jacquelin-Ravel, Expertin für klinische und metabolische Ernährung, erklärt uns, wie dieser Ansatz es ermöglicht, die natürlichen Grenzen des Körpers zu umgehen und ihm neue Kraft zu verleihen – und manchmal sogar eine zweite Chance. Von Adeline Beijns
Könnten Sie uns etwas über sich und Ihren beruflichen Werdegang erzählen?
Sehr gerne. Ich bin praktizierende Ärztin, Mitglied der FMH, mit einem Diplom in klinischer und metabolischer Ernährung der Gesellschaft für Ernährungsmedizin und Metabolismus Schweiz (GESKES) und der ESPEN (European Society for Clinical Nutrition and Metabolism). Seit über 15 Jahren betreue ich Patient:innen mit besonderen Ernährungsbedürfnissen, insbesondere solche, die parenteral ernährt werden müssen. Ich habe auch das Netzwerk für künstliche Ernährung in Lausanne gegründet, was mir ermöglicht, mit zahlreichen Fachleuten aus diesem Bereich zusammenzuarbeiten.
Meine Tätigkeit teile ich zwischen meiner unabhängigen Praxis und meinen Sprechstunden in der Clinique de La Source und der Clinique Cecil auf. Darüber hinaus habe ich im Bereich der parenteralen Ernährung geforscht, insbesondere über die Wechselwirkungen zwischen parenteraler Ernährung und Infektionen — ein entscheidendes Thema für die Verbesserung der Patientensicherheit.
Was versteht man unter parenteraler Ernährung?
Die parenterale Ernährung ist im Gegensatz zur enteralen Ernährung eine Methode der künstlichen Ernährung, bei der Verdauungstrakt umgangen wird. So werden lebenswichtige Nährstoffe direkt in den Blutkreislauf gegeben. Dies geschieht über einen Katheter, der in eine meist grosse Vene gelegt wird. Auf diese Weise werden Eiweisse, Kohlenhydrate, Fette, Vitamine und Mineralstoffe zugeführt — alles, was der Körper zum Funktionieren braucht.
Für wen ist die parenterale Ernährung geeignet?
Diese Behandlung ist für Patient:innen gedacht, deren Verdauungstrakt teilweise oder vollständig funktionsunfähig ist. Dazu gehören Menschen mit Darmverschluss, schweren entzündlichen Erkrankungen wie Morbus Crohn, fortgeschrittenen Krebserkrankungen des Verdauungstrakts oder komplexen postoperativen Situationen im Verdauungstrakt. Sie kann auch bei Menschen erforderlich sein, die ihren Nährstoffbedarf nicht enteral decken können oder bei Menschen mit mässiger bis schwerer Unterernährung, die nicht in der Lage sind, sich auf andere Weise zu ernähren.
Welches sind die grössten Vorteile der parenteralen Ernährung?
Die parenterale Ernährung ermöglicht es, einen guten Ernährungszustand aufrechtzuerhalten oder wiederher- zustellen, was entscheidend für die Unterstützung des Immunsystems, die Vermeidung von Komplikationen und die Genesung ist. Sie hat auch direkte positive Auswirkungen auf das Wohlbefinden und die Lebensqualität der Betroffenen, indem sie ihnen das Leiden erspart, das mit einer unmöglichen oder unzureichenden Nahrungsaufnahme verbunden ist, was in der Regel zu einem Verlust von Muskelmasse führt.
Welche Herausforderungen oder Risiken sind damit verbunden?
Die parenterale Ernährung ist für viele Menschen eine unverzichtbare Behandlung, die jedoch mit kontrollierten Risiken verbunden ist. Die Verabreichung erfolgt über einen zentralen Katheter, was das Risiko schwerwiegender Infektionen, wie z. B. der katheterassoziierten Bakteriämie, erhöht. Solche Infektionen können ernsthafte Folgen haben, wenn sie nicht schnell behandelt werden.
Um diese Risiken zu minimieren, halten wir uns an strenge Protokolle. Eine engmaschige medizinische Überwachung und eine multidisziplinäre Betreuung tragen dazu bei, Komplikationen zu reduzieren, die Sicherheit der Betroffenen zu gewährleisten und eine Bindung zwischen den Patient:innen und dem Behandlungsteam aufzubauen.