Misophonie: Wenn Geräusche zu psychischer Belastung führen

Misophonie

 

Misophonie ist eine Störung, die in der Gesellschaft oft wenig bekannt ist, das Leben der Betroffenen aber tiefgreifend beeinflussen kann. Hinter dem wissenschaftlichen Begriff verbirgt sich eine neuropsychische Störung, bei der bestimmte Alltagsgeräusche intensive emotionale Reaktionen wie Wut oder Verzweiflung hervorrufen. Carine, 43 Jahre alt und Verwaltungssekretärin, lebt seit ihrer Kindheit mit dieser Überempfindlichkeit. In ihrem Erfahrungsbericht erzählt sie uns, wie diese Störung ihren Alltag und ihre sozialen Beziehungen geprägt hat. Von Adeline Beijns

 

Die ersten Leiden

Carine war noch ein Kind, als sie begann, unter bestimmten Geräuschen, die von Menschen in ihrer Umgebung verursacht wurden, stark zu leiden. Sie erinnert sich genau an einen prägenden Moment mit ihrem Vater: «Schlag deine Zähne nicht gegen die Gabel, sonst beschädigst du den Zahnschmelz.» Diese einfache Warnung weckte in ihr eine Überempfindlichkeit, die mit der Zeit immer stärker wurde.

Eine starke Überempfindlichkeit

Im Laufe der Jahre entwickelte Carine eine starke Intoleranz gegenüber einer Vielzahl von Alltagsgeräuschen: Menschen, die Kaugummi kauen, Popcorn im Kino essen, oder auch das Schnarchen – jedes unwillkürliche Geräusch wird zur echten Qual. Diese Überempfindlichkeit führte schliesslich dazu, dass sie beispielsweise nur noch bei rauschenden Geräuschen wie Regen schlafen kann.

Der Albtraum öffentlicher Orte

Ins Restaurant zu gehen, ist für Carine eine Tortur. Die Hintergrundgeräusche, die vielen Gespräche und mechanischen Gesten wie das Klopfen mit den Fingern auf den Tisch sind für sie eine Belastung. «Ins Restaurant zu gehen, ist eine wahre Prüfung, das Stimmengewirr und die Geräusche aller Art machen mir das Leben unerträglich.»

Eine rettende Leidenschaft

Um dieser lauten Welt zu entkommen, findet Carine Zuflucht im Zeichnen und in den visuellen Künsten. Diese stillen Aktivitäten bringen ihr einen Frieden und eine Ruhe, die sie nirgendwo sonst findet. «Das Zeichnen und die visuellen Künste sind für mich ein Ausweg. Sie ermöglichen es mir, ein wenig Ruhe abseits des Lärms zu finden.»

Die Diagnose und das Bewusstwerden

Vor fünf Jahren konnte Carine ihre Störung endlich identifizieren und benennen. «Meine Mutter erkannte die Symptome, unter denen ich litt, als sie eine Reportage im Fernsehen sah», erzählt Carine. Als Carine erfuhr, dass sie an Misophonie leidet, war sie erleichtert und traurig zugleich, denn das bedeutete, dass es sich um eine echte Krankheit handelt und nicht nur um ein vorübergehendes Unbehagen.

Auswirkungen auf das tägliche und soziale Leben

«Die Misophonie versetzt mich in einen Zustand ständiger nervöser Anspannung, manchmal kriege ich auch Angst. Ich fühle mich vom Lärm angegriffen, was mich aggressiv oder nervös machen kann und meine Energie raubt», gesteht Carine. «Ich ertrage grosse Gruppen und Menschenmengen schlecht, passe michaber an, wenn es sein muss. Im Gegensatz dazu schätze ich kleine Rundenund insbesondere Gespräche unter vier Augen sehr», fährt sie fort. «GeselligeMomente, wie das gemeinsame Essen mit meiner Familie oder Freund:innen, sind eine wahre Tortur. Ich fühle eine Spannung im Bauch und werde tyrannisch gegenüber meinem Mann und dem Rest meiner Familie.»

Ein Alltag, der neu erfunden werden muss

Um störende Geräusche zu übertönen, versucht Carine, sie mit Geräuschen zu überdecken, die sie selbst auswählt, wie zum Beispiel das Geräusch von Regen. Leider fällt es ihrem Umfeld oft schwer, ihre Störung zu verstehen, und sie wird manchmal als kompliziert empfunden. «Oft denken die Leute, dass ich mich nur anstelle und nervig bin. Aber es ist eine echte Störung, ein echtes Leid.»

Eine Botschaft der Hoffnung

Carine möchte eine Botschaft an diejenigen richten, die eine Diagnose von Misophonie erhalten könnten: «Ihr seid nicht verrückt. Glaubt nicht, dass ihr verrückt seid. Es ist eine echte Krankheit und ein echtes Leid. Es kann schwer sein, wenn das Umfeld es nicht versteht, aber man muss versuchen, Wege zu finden, um den Alltag zu bewältigen, und vor allem sollte man keine Schuldgefühle haben.» Carines Erfahrungsbericht erinnert uns daran, dass Misophonie eine komplexe und wenig bekannte Störung ist. Dennoch lassen sich Wege finden, um besser mit dieser täglichen Herausforderung zu leben.

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