Stechender Schmerz, endlose Geduld: die Arnold-Neuralgie

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Jacqueline, 64, ist eine lebenslustige Frau. Sie liest und näht leidenschaftlich gern und hat immer Zeit gefunden, Kostüme für ihre vier inzwischen erwachsenen Kinder zu nähen. Sie freut sich auf die Geburt ihres zweiten Enkelkindes und liebt es, mit ihrem Mann zu reisen, wie sie es kürzlich in Französisch-Polynesien getan hat. Doch hinter dieser Vitalität verbirgt sich ein langer und zermürbender Kampf gegen eine unsichtbare Krankheit: die Arnold-Neuralgie. Von Adeline Beijns

Die Arnold-Neuralgie verstehen

Die Arnold-Neuralgie (auch: occipitale Neuralgie) ist eine seltene und oft verkannte Erkrankung des grossen Hinterhauptnervs (Nervus occipitalis major), auch als Arnold-Nerv bekannt. Dieser Nerv zieht vom oberen Ende der Wirbelsäule durch den Nacken und verzweigt sich bis zum Hinterkopf. Wenn dieser Nerv gequetscht, gereizt oder entzündet wird, kann er starke Schmerzen verursachen, die als blitzartige elektrische Entladungen oder Kribbeln beschrieben werden und häufig am Hinterkopf in der Nähe der Ohren auftreten oder in die Kopfhaut ausstrahlen. Diese Schmerzen können plötzlich auftreten oder chronisch sein und die Lebensqualität stark beeinträchtigen. Die Ursachen können vielfältig sein: Muskelverspannungen, Traumata, Arthrose der Halswirbelsäule oder auch idiopathische Ursachen (ohne erkennbaren Grund). Die Krankheit ist zwar nicht lebensbedrohlich, aber aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit anderen Krankheiten einschränkend und schwer zu diagnostizieren.

Die Anfänge des Schmerzes

Für Jacqueline begann alles 1998, kurz nachdem ihr Vater an Krebs erkrankt war. Starke Schmerzen hinter den Ohren traten auf, anfallsartig und unvorhersehbar. Als ihr Vater 1999 starb, wurden die Attacken noch heftiger und machten ihren Alltag unerträglich.

Eine zermürbende medizinische Irrfahrt

Zehn lange Jahre hatte Jacqueline nicht nur mit den Schmerzen zu kämpfen, sondern auch mit einer quälenden Ungewissheit. Jeder neue Arztbesuch bedeutete einen Hoffnungsschimmer, der durch ausbleibende Antworten oder unwirksame Behandlungen schnell wieder zunichte gemacht wurde. «Niemand wusste, was ich hatte, und ich wusste es auch nicht», erinnert sie sich. «Die Ärzte versuchten alles, aber nichts half.» Zuerst vermutete man Zahnprobleme. Jacqueline wurde gründlich untersucht, es wurden Röntgenaufnahmen gemacht und sogar die Weisheitszähne gezogen, aber die Schmerzen blieben.

Dann dachten die Ärzte an eine Ursache im Hals-Nasen-Ohren-Bereich: Infektionen oder Entzündungen im Bereich der Ohren. Auch hier ergaben die Untersuchungen keinen Hinweis. Jacquelines Weg führte sie dann zu einem Augenarzt, der ihre Augen auf eine mögliche Belastung oder Überanstrengung untersuchte, die im Verdacht stand, die atypischen Migräneattacken auszulösen. «Man sagte mir, es könnte an meinen Augen liegen. Ich habe die Brille gewechselt, den Augeninnendruck testen lassen…aber es änderte sich nichts.» Obwohl sie renommierte Spezialist:innen aufsuchte, erhielt Jacqueline keine Antwort. Diese medizinische Irrfahrt führte zu einem tiefen Gefühl der Entmutigung. «Es war, als ob meine Schmerzen nicht existierten oder keine Ursache hatten.»

Diese Unsicherheit wurde zusätzlich verstärkt durch die Zweifel einiger Ärzt:innen, die manchmal andeuteten, dass ihr Leiden psychosomatisch sein könnte. «Sie haben mir das Gefühl gegeben, dass es vielleicht nur in meinem Kopf ist. Solche Kommentare machen einen fertig.» Erst 2008, nach einem Jahrzehnt erfolgloser Untersuchungen und Behandlungen, stellte ein Neurologe endlich die lang ersehnte Diagnose. «Als er das Wort Arnold-Neuralgie sagte, war ich erleichtert. Aber warum war vorher niemand auf diese Diagnose gekommen?» Der Arzt gab ihren Schmerzen endlich einen Sinn und leitete einen Behandlungsplan ein, der ihr Leben verändern sollte. Jacqueline betont, dass trotz der Fortschritte in der Medizin immer noch viele Patientinnen und Patienten diese medizinische Irrfahrt durchmachen. «Eine seltene Krankheit wie diese ist schwer zu diagnostizieren, aber es sollte nicht zehn Jahre dauern. Die Ärztinnen und Ärzte sollten ihren Patientinnen und Patienten besser zuhören und allen Hinweisen nachgehen.»

Eine langwierige, aber erfolgreiche Behandlung

Nachdem sie drei Neurologen konsultiert hatte, fand Jacqueline denjenigen, der ihren Zustand stabilisieren konnte. Zwischen 2011 und 2019 unterzog sie sich neun Eingriffen, um den Trigeminusnerv zu modulieren und die Intensität der Anfälle zu verringern. Heute hat sie ihre Krankheit dank einer angepassten Behandlung und einer strengen Nachsorge unter Kontrolle. «Die Arnold-Neuralgie ist nicht heilbar», erklärt sie, «aber mit einem kompetenten Neurologen oder einer kompetenten Neurologin und einer vertrauensvollen Beziehung kann man sie in den Griff bekommen.» Sie betont auch, wie wichtig es ist, es nicht mit Schmerzmitteln zu übertreiben, sondern zu versuchen, die Ursache der Anfälle zu verstehen, um sie besser behandeln zu können.

Ein psychologischer Kampf

Während Jacquelines Körper lernte, mit der Krankheit zu leben, wurde ihr Geist auf eine harte Probe gestellt. Die Arnold-Neuralgie ist eine unsichtbare Krankheit: Keine Narbe, kein äusseres Zeichen verrät die Schmerzen, die sie verursacht. «Die Leute konnten nichts sehen, also verstanden sie es auch nicht. Das war manchmal noch schlimmer als der Schmerz selbst.» Das Gefühl des Unverständnisses übertrug sich auf ihre Umgebung, manche spielten ihren Schmerz herunter oder stellten seine Realität infrage. Jacqueline geriet an den Rand einer Depression, die sie auf die emotionale Isolation durch die Krankheit zurückführt.

Ihre Leidenschaften – Nähen, Lesen und ihre Rolle als Mutter – retteten sie. «Die Beschäftigung hat mich davor bewahrt, unterzugehen. Sobald ich damit aufhörte, kam der Schmerz mit voller Wucht zurück.» Jacqueline betont auch, wie wichtig es ist, ein aktives soziales Leben zu führen und Verbündete unter den Angehörigen und dem Pflegepersonal zu finden. «Man muss das nicht alleine durchstehen. Man muss reden, auch wenn man glaubt, dass einen niemand versteht.»

Das Unsichtbare zähmen

Heute fühlt sich Jacqueline wieder ausgeglichen. Sie möchte Menschen mit der Diagnose Arnold-Neuralgie eines mit auf den Weg geben: «Verlieren Sie niemals die Hoffnung. Es ist keine endgültige Diagnose. Mit einer guten Neurologin oder einem guten Neurologen, aufmerksamen Zuhören und der richtigen Behandlung können Sie wieder ein fast normales Leben führen.» Sie schliesst mit dem Hinweis, dass diese Krankheit, obwohl unsichtbar, ernst genommen werden muss. «Man muss für sich selbst einstehen, auf eine präzise Diagnose bestehen und sich nicht unterkriegen lassen. Der Schmerz darf nicht dein Leben bestimmen.»

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